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In den Abgrund:
Begüm Erciyas’ “This piece is still to come”

Sechs Flachbildfernseher auf Podesten, eine Kamera auf einem Stativ, ein Mikrofon: Das ist das Setting für das neue Stück der Nachwuchschoreografin Begüm Erciyas. Performer sind die Zuschauer selbst. Sie würden jetzt gleich gefilmt, sagt Erciyas bei der Begrüßung. Auf den sechs im Raum verteilten Bildschirmen liefen gleich Aufnahmen aus den vergangenen Wochen, eine sei ganz frisch, von gestern. Jetzt sollten doch bitte alle aufstehen und im Raum umher gehen.

Die Reihe „In Progress“ gibt Choreografen Gelegenheit, Projekte zu zeigen und zur Diskussion zu stellen bevor sie fertig sind. Dass „This piece ist still to come“ fertig wird, ist allerdings gar nicht geplant. Erciyas hinterfragt vertraute Parameter performativer Künste: Anwesenheit, Anfang und Ende, Raum und Zeit. Vor allem die Wahrnehmung von Zeit und Möglichkeiten der Manipulation dieser Dimension wolle sie erforschen, erklärt sie später in der Feedbackrunde – nach rund 30 Minuten Verwirrspiel.

Eine schwindelerregende Endlosspiegelung

Ein Bildschirm geht an, die eben von Erciyas gehaltene Ansprache schallt im Wortlaut durch den Raum. Menschen stehen da, schauen neugierig in Richtung Bildschirm, stehen den Betrachtern quasi gegenüber. Es ist fast so, als schaue man in einen Spiegel. Einige der Anwesenden blicken sich um, wieder auf den Bildschirm, wieder in den Raum, scheinen abzugleichen, ob das jetzt eine Live-Übertragung ist. Die Kamera ist jedenfalls auf sie gerichtet. Doch auf dem Bildschirm fächeln sich mindestens doppelt so viele Menschen mit Hüten und Blättern Luft zu. Klar, gestern war der bisher heißeste Tag des Jahres.

Nach und nach gehen auch die anderen Bildschirme an, Erciyas’ Ansprache beginnt immer wieder von vorn, Menschen hören zu, gehen im Raum umher und schauen sich andere Menschen an, die das gleich machen. Erciyas’ Worte deformieren sich durch die Überlagerung der Schallwellen im Raum, bis nur noch Laute wahrzunehmen sind. Viele Besucher_innen haben selbst Kameras dabei, fotografieren und filmen die Bildschirme. Das Netz aus dem Hier und Jetzt sowie digitalem Material – dokumentiertem Hier und Jetzt – wird immer komplexer. Und dann verändern sich die Bilder: Bildschirme in Bildschirmen in Bildschirmen, eine schwindelerregende Endlosspiegelung. Mal leuchtet auch nur eine farbige Fläche auf.

„Happening”? „Live Art”? „Aktion”?

Das Konzept „In Progress“ hat Erciyas zum Prinzip gemacht, die „Mise en abyme“-Struktur legt den Entstehungsprozess des Stückes offen. Dieser Begriff aus der Literatur bezeichnet den selbstreferentiellen Charakter eines Werkes, das ganz bewusst die Grenze zwischen Produktion und Rezeption überschreitet, die Fiktion aufbricht, um den Zuschauer in den Abgrund (franzöisch „abîme“) schauen zu lassen.

Im November ist Premiere auf Kampnagel in Hamburg. Doch in Erciyas’ Konzept ist ein Begriff wie Premiere” obsolet, genauso wie Publikum, Aufführung” oder Zuschauen”. Jede Wiederholung sei eine Premiere, sagt Erciyas, als sie am Ende wieder am Mikrofon steht. Die Vorstellung von „Performance” hingegen ist so wunderbar weit gefasst – das geht auch für „This piece ist still to come“ gerade noch durch. Wobei man doch eher von einer „performativen” Installation sprechen muss. Oder doch von „Happening”? „Live Art”? „Aktion”?

Mehr “In Progress”? Hier geht es zu unserer Kritik von Kat Válasturs “Oh! Deep Sea – Corpus III”.

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